Ich war seine Lust täglich

Predigt von Peter Sorg an Sonntag Jubilate, 21. April 2024,
über Prov 8, 22ff

O ich bin klug und weise,
Und mich betrügt man nicht.
Diese ausdrucksvollen Züge,
Dieses Aug‘, wie ein Flambeau,
Verkünden meines Geistes Siege,
Ich bin ein zweiter Salomo.
Denn ich weiß zu bombardieren,
Zu rationieren, zu expektorieren,
Zu blamieren, inspizieren,
Echauffieren, räsonieren, malträtieren,
Und zu ieren, zieren, rühren,
Führen, schmieren, ratifizieren.
Mit einem Wort, man sieht mir’s an,
Ich bin ad speciem ein ganzer Mann!

Mit dem Bürgermeister von Bett hat Albert Lortzing vor knapp 200 Jahren dem aufgeblasenen Macho ein Denkmal gesetzt, freilich ein ironisches. Der sich da so überzeugt Rühmende hält seine Bauernschläue und Gerissenheit, seine Skrupellosigkeit, für Weisheit und Klugheit.

Nun kann man es mit Schlauheit wahrlich weit bringen, das gilt heute genauso wie in der Zeit, in der der Komponist seine Oper Zar und Zimmermann schrieb. Man kann ein Dollar-Imperium aufbauen, braun-goldene Hochhaustürme errichten und auf alles seinen einprägsamen Namen setzen.         

Das ist vielleicht schlau, mit Weisheit hat es nichts zu tun. Die kommt nicht dröhnend daher, nicht aggressiv. Sie hat keinen Machtanspruch, sie lädt ein, ist heiter, gelassen und klug.

So begegnet sie uns im Alten Testament im Buch der Sprüche. Ein Abschnitt daraus ist für den heutigen Sonntag Jubilate als einer der Predigttexte vorgeschlagen in der neue Perikopenordnung. Da ich hierüber noch nie gepredigt habe, ergreife ich die Gelegenheit beim Schopfe.

Folgendes steht im 8. Kapitel der Proverbien:

Sprüche 8, 22-36

Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.

Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen.

Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens.

Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern. So hört nun auf mich, meine Kinder! Wohl denen, die meine Wege einhalten!

Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.

Welch ein poetischer Text. Dass dieser Text vor Zeiten im Orient entstand, ist mir klar. Dass es sich hier um tiefsinnige jüdische Mystik handeln muss, auch. Doch seine wundervoll poetischen Bilder kommen mir vor wie das Libretto einer Barockoper, deren Noten leider verschollen sind. Man hört fast den hüpfenden Sopran der Weisheit über dem kontrapunktischen Bass Gottes. Die so abstrakte Weisheit, der so unsichtbare Gott, sie bauen sich die Welt wie Großvater und Enkelin es mit Bauklötzchen und Playmobil Figuren tun. Zwei, die älter sind als der Kosmos. Dieser alttestamentliche Text rückt die Weisheit in eine göttliche Sphäre. Anders als das Wissen: Wissen ist etwas Menschliches. Ich kann es erwerben, kann es mehren und nutzen. Es ist ein immaterielles Gut, das sich durchaus materialisieren kann. Das Wissen des Ingenieurs ernährt ihn. Das Wissen einer Lehrerin hat die Funktion weitergegeben zu werden, sich so weiterzuentwickeln und nährt letztlich auch sie.

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ Sagte Marie von Ebner-Eschenbach. Sprich: Wissen macht fähig, Dinge kritisch zu betrachten, womit wir bei der Klugheit wären. Denn Wissen und Fakten, daraus besteht es ja, bedürfen der Einordnung, damit man mit ihnen operieren kann, sonst wären sie wie Ziffern ohne Mathematik. Wenn man so will, ist Weisheit die Mathematik des Wissens. Weisheit ist die Mathematik des Wissens! Das Wissen ihre Ziffern. Sie macht Wissen handhab- und nutzbar. Sonst wäre es Ballastwissen.

Wissen kann ich erwerben. Ganz anders ist es mit der Weisheit. Sie kann wohl nur entstehen, wo Abstand herrscht. Abstand von mir, Abstand von den Problemlagen. Seien es die eigenen oder die der anderen oder der ganzen Welt. Dabei ist die Weisheit aber nicht die Flucht aus den Nöten der Welt. Nein. Sie sieht sie mit empathischem Blick, verliert sich aber nicht in ihnen. Wenn mir hingegen die Dinge über den Kopf wachsen, ist meine Weisheit perdu. Verscheucht wie ein spielendes Kind am Spielplatz, das sich vor dem Lärm der Rowdies zurückzieht.

Doch zurück zum alttestamentlichen Text. Der gliedert sich in zwei Teile. Einem ersten, in dem ein phantastischer Schöpfungsmythos entspannt wird: Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Der zweite Teil widmet sich einer verspielten Harmonie zwischen Gott und der Weisheit: … als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.

Die jüdische Bibel macht hier die Weisheit zu einem göttlichen Element. Sie ist, wie Luther es einst übersetzte Gottes Hand­werkerin oder Werkmeisterin, Gottes Liebling. Ist das nicht ein wunderbarer Gedanke, dass der Schöpfung Gottes eine Weisheit innewohnt, ja, dass ALLES, das Universum in einer Kooperation entstand von Schöpfergott und Weisheit. In der Weisheit versöhnen sich Glaube und Verstand. Gottes Schöpfung ist kein mäanderndes Chaos, sondern ein von Weisheit durchwirkter Schöpfungsakt von Anbeginn an. Sie hat sozusagen ein Webmuster, auch wenn dieses uns Rätsel aufgibt.

„Ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“ Weisheit, ein Gottesgeschenk, das Lust macht auf ein Leben in und mit Gottes Schöpfung. Unser poetischer Text erzählt von einer lustvollen, einer weiblichen Seite Gottes voller Schöpfungskraft. Sie ist den Menschenkindern zugewandt. Uns zugewandt! Mütterlich.

Vielleicht ist uns, die wir den Luxus des Glaubens zu leben versuchen, da ein Weg aufgezeigt. Der Weg der Weisheit. Die ist ein Gottesgeschenk. Dieses wird nicht unbedingt, wie in der fernöstlichen Tradition durch Übung und Disziplin erworben, was ein sehr berechtigter Weg ist. Doch hier im Alten Testament begegnet mir die Weisheit eines unschuldigen Kindes, eine Weisheit, die nicht unbedingt an den Intellekt gebunden ist. Eine Weisheit, wie sie einem geistig behinderten Menschen eigen sein kann oder einer dementen Seniorin, oft einem Kind.

Es ist eine Lebens-Weisheit, die verhilft, das Leben zu lieben, auch in Traurigkeit, in Nöten und Sorgen. Solche Weisheit schwingt in unserer kriegerischen Gegenwart wahrhaftig nicht das Szepter. Man hat sie eher vergrämt. Sie führt ein Nischendasein.

In einer Welt, die glaubt, alles zu wissen, in der gleichzeitig alles geglaubt wird, weil Wissen mit Anstrengung verbunden sein kann, einer Welt der medialen Empörungen und Aufgeregtheiten, deren Währung Aufmerksamkeit, Anerkennung und letztlich Klick und Kick sind, in einer solchen Welt ist der Glaube zur Nische geworden. Wenn wir aber in dieser Nische Weisheit finden, eine scheue, verlockende, das Leben liebende Weisheit, dann sind wir nicht allein und verloren.

Ich bin der Überzeugung, dass diese Welt voller Menschen ist, denen solche Weisheit innewohnt. Gebe Gott, dass sie einander begegnen und dann auch erkennen.

AMEN