Von einer Jungfrau geboren?

Predigt über Luk 1, 26-35.38
am 17.12.2023 (3. Advent)
von Pfarrer i.R. Dr. Wilhelm Otto Deutsch

Gott schickte den Engel Gabriel zu einer Jungfrau in die Stadt Nazareth in Galiläa. Sie war mit einem Mann verlobt, der Josef hieß und ein Nachkomme Davids war. Die Jungfrau hieß Maria. Der Engel trat bei ihr ein und sagte: „Sei gegrüßt! Gott hat dir seine Gnade geschenkt: Der Herr ist mit dir.“ Maria erschrak über diese Worte und fragte sich: „Was hat dieser Gruß zu bedeuten?“

Da sagte der Engel zu ihr: „Fürchte dich nicht, Maria. Gott schenkt dir seine Gnade: Du wirst schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Dem sollst du den Namen Jesus geben. Er ist zu Großem bestimmt und wird Sohn des Höchsten genannt werden. Er wird für immer als König herrschen über die Nachkommen Jakobs. Seine Herrschaft wird niemals aufhören.“

Da sagte Maria dem Engel: „Wie soll das möglich sein? Ich habe doch noch nie mit einem Mann geschlafen!“ Der Engel antwortete: „Der Heilige Geist wird auf dich kommen. Die Kraft des Höchsten wird dieses Wunder in dir bewirken. Deshalb wird das Kind, das du erwartest, heilig sein und ‚Sohn Gottes‘ genannt werden… Für Gott ist nichts unmöglich!“ Da sagte Maria: „Ich diene dem Herrn. Es soll an mir geschehen, was du gesagt hast.“ Da verließ sie der Engel. (Übersetzung aus der Basisbibel)

Maria

In unserer Adventstradition, d.h. in vielen unserer Adventslieder ist davon die Rede, dass Jesus „Davids Sohn“ sei und auch der „Jungfrauen Sohn“ (z.B. in „Gott sei Dank durch alle Welt,“ EG 12,  und in „Tochter Zion“, EG 13). Ganz ähnlich heißt es auch in unserer Geschichte von der Ankündigung des Engels Gabriel, der Heilige Geist werde der Vater Jesu sein und Gott werde ihm den Thron seines Vorfahren David geben. Dabei kann er aber nur eines von beiden sein: entweder Davids Sohn oder der Jungfrauensohn! Man muss dazu bloß ein bisschen mehr aus dem Lukas-Evangelium lesen. Ich habe Ihnen das hier einmal aufgeschrieben.

„Jesus galt als Sohn Josefs. Josef war der Sohn von Eli, Enkel von Mattat und Urenkel von Levi. Die Linie lässt sich zurückverfolgen über Melchi bis zu Janai …“  Dann geht das so weiter:  „der war der Sohn von … usw.“ bis zu: „Juda war der Sohn von Josef, Enkel von Jonam und Urenkel von Eljakim. Die Linie lässt sich zurückverfolgen über Melea, Menna und Mattata zu Natan. Natan war der Sohn Davids …(Luk  3, 23-31)

In diesem Stammbaum Jesu, den Lukas zu Anfang des Kapitels 3 aufführt, erscheint tatsächlich David als ein Vorfahre Jesu – oder genauer gesagt, als Vorfahre Josefs. David ist also ein Vorfahre Jesu väterlicherseits.  Es setzt voraus, dass Josef der Vater Jesu war – und nicht der heilige Geist. Denn Maria stammte nicht von David ab.

König David als Vorfahre – das gehörte zur Erwartung des Messias zur Zeit Jesu: dass er von David abstammte und eben sein Königtum wieder aufleben ließ. Wenn also Lukas in seinem Evangelium sagen wollte, Jesus ist der Messias, der Christus, dann musste er von David abstammen. Dann aber hat Lukas ein Problem.

Denn in unserem Predigttext behauptet er ja, an der Entstehung Jesu sei kein Mann beteiligt gewesen, sondern das sei der Heilige Geist gewesen. Wenn es aber der Heilige Geist war,  dann stammt Jesus nicht aus dem Hause und Geschlechte Davids. Dann kann er nicht der Messias, der Christus sein. Genau das aber lässt Lukas den Engel Gabriel sagen:  Jesus ist der Messias; er stammt von David ab. Wie gesagt, Lukas hat ein Problem. Er verwendet offensichtlich zwei verschiedene Traditionen zur Abstammung Jesu, die einander widersprechen.

Wie löst Lukas sein Problem? Er passt die beiden Traditionen einander an. Und zwar macht er das am Anfang des Stammbaums (Luk 3). Dieser Stammbaum soll ja belegen, dass Jesus von David abstammte, aber das würde er nur, wenn am Anfang gesagt würde: „Jesus war der Sohn Josefs.“ Dann aber würde Lukas der Verkündigung des Engels widersprechen, dass Jesus direkt vom Heiligen Geist abstammte. Also wählt er die Formulierung: „Jesus galt als Sohn Josefs“, er wurde dafür gehalten“, d.h., er war es nicht wirklich.

Für uns ist das heute ziemlich verwirrend. Aber es ist schon wichtig festzuhalten, dass bereits im Lukas-Evangelium, das am deutlichsten von allen Evangelien behauptet, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde – also ohne Beteiligung eines Mannes -, auch eine Tradition enthalten ist, die das überhaupt nicht sagt, sondern für die wichtig ist, dass Jesus von David abstammte und damit Messias sein konnte. Und das konnte er nur, wenn Josef sein Vater war. Jesus kann also nur „Davids Sohn“ oder „Jungfrauensohn“ sein, nicht beides!

Eine andere wichtige Aussage über Jesus in unserem Predigttext ist: „Er wird für immer als König herrschen über die Nachkommen Jakobs“. Vermutlich sind wir uns alle darin einig, dass dieses Königtum nicht wörtlich gemeint sein kann. Jesus war kein König im Sinne eines Herrschers über ein Land oder wie heute König Charles III. von England. Viele von uns erinnern sich ja noch seine Krönung im Sommer. Dass Jesus König sein würde, ist ganz offensichtlich symbolisch gemeint – nicht buchstäblich mit Thron und Krone und besonderen Gewändern.  Es sagt also etwas über seine große Bedeutung für seine Nachfolger, ein Bild  – aber nichts über seine tatsächliche gesellschaftliche oder politische Position in seiner Gesellschaft.

„König“ ist dieser Jesus, von dem der Engel da redet, also nur in einem symbolischen Sinn. Als einer, von dem man sich geschützt fühlen kann, dem man vertrauen kann, der einem sagt, wo’s lang geht.

Darüber können wir, glaube ich, rasch Einigkeit erzielen. Wir entdecken also in der Ankündigung des Engels an Maria bildhafte, symbolische Sprache. Warum aber hat man jahrhundertelang – bis in unsere Zeit – , daran festgehalten, dass Maria tatsächlich und buchstäblich Jungfrau gewesen sei, die noch keinen sexuellen Kontakt zu einem Mann hatte? Warum hat man das nicht auch als bildhafte, symbolische Sprache verstanden?  Als ob an ihrer realen Jungfrauschaft seine Gottessohnschaft hinge.

Diese Vorstellung, dass jemand Gottes Sohn sei, weil er direkt von Gott gezeugt sei, stammt aus dem griechischen Denken. Einige von Ihnen werden Geschichten von Zeus, dem Göttervater, kennen, der mit irdischen Frauen zusammen Söhne zeugte, die dann als Halbgötter mit besonderen Fähigkeiten durch die Welt wanderten. Herkules gehört dazu oder auch Achilles.

Im hebräischen Denken wird dagegen einer zum „Sohn Gottes“, wenn Gott ihn für einen bestimmten Auftrag auswählt. Der König im alten Israel wurde am Tag seiner Krönung von Gott buchstäblich (d.h.liturgisch) adoptiert. Bei der Salbung wurde der neue König gesegnet mit den Worten: „Du bist mein lieber Sohn, heute habe ich dich gezeugt!“

Die Evangelisten Matthäus und Lukas schrieben für Menschen, die mit dem alten hebräischen Denken nicht mehr vertraut waren. Deswegen schrieben sie auch auf Griechisch und nicht auf Hebräisch. Und darum haben sie Bilder und Denkmodelle aus der griechischen Tradition gewählt, weil ihr Publikum damit vertraut war.

Sie wollten zum Ausdruck bringen, dass Gott in ganz besonderer Weise in Jesus präsent gewesen war. Und sie taten das mit den in ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft üblichen Bildern. Aber es bleiben Bilder.

Die Frage ist, ob diese Bilder, die Matthäus und Lukas verwenden, für uns heute noch dieselbe Bedeutung haben wie damals. Ob wir uns also Gedanken darüber machen müssen, ob Maria nun im biologischen Sinne Jungfrau war. Ob da also ein Wunder war. Oder nicht.  Ob nicht für uns viel wichtiger ist, wie Maria auf die Ankündigung des Engels reagiert: „Ich diene dem Herrn. Es soll geschehen, was du gesagt hast.“

Sie hätte Nein sagen können. Der Engel redet mit ihr, bevor sie schwanger wurde. Sie ist nicht plötzlich mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert. Sie hätte Nein sagen können. Stattdessen sagt sie „Ja“. Sie stellt sich bewusst und selbstbewusst zur Verfügung. Sie war offen für das, was Gott mit ihr vorhatte.

Ich wünsche uns allen die Offenheit der Maria für das, was Gott mit uns vorhat: heute, in den nächsten Tagen und Wochen, im nächsten Jahr.

Amen