Unübersichtlichkeit

Rundfunkpfarrer Jörg Metzinger hat am 1. September über das Thema „Christsein in unübersichtlichen Zeiten“ gepredigt.

Predigt

Früher, heißt es, war die Welt übersichtlicher, klarer, nicht so kompliziert wie heute. Früher, in analogen Zeiten. Früher, heißt es, wäre auch klarer gewesen, was es heißt, anständig zu sein. Dinge, die man nicht tat. Als Kind schon gelernt: Lein Nachtreten, wenn einer auf dem Boden liegt. Politiker waren integre Persönlichkeiten, die Straßen sicherer, das Brot besser. Früher, heißt es, nahm man mehr Rücksicht aufeinander. Hatte mehr Respekt. Vor den Alten. Einem Polizisten. Dem Bürgermeister. Und gesiezt hat man sich! Früher, heißt es, war klar, wie man als Christ zu leben hat. Kinder wurden selbstverständlich getauft, unverheiratet hat man nicht zusammengelebt. Die 10 Gebote waren bekannt, Luthers kleiner Katechismus wurde von den Konfirmanden auswendig aufgesagt.

Und heute?

Das Leben und die Welt, in der wir leben, ist vielfältiger und unübersichtlicher geworden: Zerbombte Häuser in der Ukraine, in Gaza. Das Wasser im Mittelmeer wärmer als in der Badewanne. Merkwürdige Politiker drängen sich in allen unappetitlichen und beunruhigenden Einzelheiten vor unsere Augen: Trump und Erdogan, Putin und Bernd Höcke. Alle auf diesem kleinen Bildschirm, den wir bei uns tragen. Eine ununterbrochene Flut von Bildern und Meldungen über alle Kanäle. Nackte Haut und verbrannte Erde, schmelzendes Eis und Millionen Dinge, die man konsumieren kann. Soll. Muss.

Da richtet sich die Sehnsucht schon mal rückwärts, in die Vergangenheit, die in mildes ruhiges Licht getaucht erscheint. Aber mal abgesehen davon, dass es früher garantiert auch Mist war  – ums mal salopp auszudrücken – davon mal abgesehen: Die größere Freiheit, die wir heute haben – das ist doch auch ein echter Gewinn.

Eigentlich kann uns niemand mehr Lebensmodelle vorschreiben. So wie das früher noch war. Wie man zu leben hat, zu sein hat, als Mann und Frau, oder auch ganz anders, als Kind und Erwachsener. Und wenn es doch jemand vorzuschreiben versucht, zum Beispiel die Katholische Kirche: Ich kann mich darüber hinwegsetzen.

Die Nachteile sind – wenn überhaupt – gering. Und das ist auch gut so – wie  der schwule Bürgermeister von Berlin einmal sagte. Auch im religiösen Bereich ist die Freiheit grenzenlos geworden. Ein mehr oder weniger klar umrissenes Bild, wie ich christlichen Glauben leben soll, das gibt es nicht mehr.

Was jemand glaubt – das setzt sich schon lange aus verschiedenen religiösen Quellen zusammen. Ein bisschen Jesus, ein wenig Meditation, ein paar ethische Regeln vom Dalai Lama. Fasten wie die Muslime.

Die Frage, wie kann, wie soll ich als Christ leben, arbeiten, Geschäfte machen? Wie kann, wie soll ich als Christ meine Kinder erziehen, auf welche Art fromm sein? Diese Frage muss sich jeder selbst beantworten. Oder unbeantwortet lassen.

Auch wenn die Antworten auf religiöse Fragen überall auf uns lauern, offen oder versteckt, in Asien, im Esoterikladen, am Info-Stand in der Bahnhofstraße oder als Aufmerksamkeits-Ratgeber bei Amazon.

Ich sage danke
Und was sagt die Bibel dazu?

Gute evangelische Christen – die soll es ja noch geben 😉 – blicken zur Beantwortung solcher Fragen in die Bibel.

Der Predigttext. 1. Thessalonicher 5, 14-24:

Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann. Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann. Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch. Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles, und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt. Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.

Tja, liebe Gemeinde, ist dieser Paulus mit seinem Schreiben an die Gemeinde in Thessaloniki nun ein guter Ratgeber für uns, fast 2000 Jahre später? Oder erinnert er ungut an Lehrer, Eltern, Erzieher, deren „gute Ratschläge“ schon aus Prinzip unannehmbar sind?

Paulus sagt viel, fast zuviel. Wie ein Trommelfeuer, diese kurzen Sätze. Wie eine Mutter, die kurz vor der Abfahrt des Sprösslings zur ersten Jugendfreizeit noch kurz vorm Einsteigen in den Bus eine Litanei der Verhaltensregeln abspult: „Zieh dich warm an, hör auf den Lehrer, schmatz nicht beim Essen und meld dich über WhatsApp, ob ihr gut angekommen seid, hörst du!“ Paulus sagt aber auch zum Widerspruch Reizendes, weil wenig Konkretes „Vergeltet nicht Böses mit Bösem!“ 

Und was ist mit dem, der bei einem Autorennen mitten in der Stadt Leben auslöscht? „Seid allzeit fröhlich!“ Ja, und wenn ich aber traurig bin, darf ich das dann nicht? „Jagt allezeit dem Guten nach!“ Ja, was ist denn heutzutage gut und was böse? Wer ist heutzutage in dem unübersichtlichen Gestrüpp der Meldungen der Lügner und wer der Ehrliche?

Liebe Gemeinde,

früher wurde der Kirche, den Christen, die sie tragen, vorgeworfen: „Ihr wollt doch zuständig sein für ethische Fragen, nun sagt doch der Gesellschaft, wie sie zu leben hat! Aber was kommt: allgemeines Blabla oder unrealistische Vorschläge, nicht von dieser Welt, an den harten Tatsachen vorbei. Von irgendeinem Paulus, 200 Jahre alte Vorstellungen!“

Wie gesagt früher. Spätestens nach dem Missbrauchsskandalen in beiden großen Kirchen, möchte eigentlich niemand mehr unsere Meinung wissen „Ihr sagt was zu Krieg und Frieden? Ihr redet von der Bewahrung der Schöpfung? Ihr wollt euch für die Schwachen einsetzen? Ihr redet von christlichen Werten? Und habt selbst diese Ungeheuerlichkeiten zugelassen?“

Vielleicht wäre es besser, zu schweigen? Das denke ich fast immer, wenn ich fürs SR-Fernsehen einen Beitrag aus christlicher Sicht abzuliefern habe. Und rede dann doch. Über die AfD, über Ausländerhass, über Missbrauch in der Kirche. Über fehlendes Mitgefühl.

Bettina Koch, die Schauspielerin, die uns Sprecher und Sprecherinnen der Christlichen Sicht trainiert, die hat mal zu uns gesagt: „Ihr müsst davon sprechen, was gut und richtig ist. Klar und deutlich. Das erwarten die Zuhörer. Wer, wenn nicht ihr von der Kirche?“

Liebe Gemeinde,

das gilt eigentlich für jeden, der sich noch zur Kirche hält. Auch für euch. Wir Christen leben doch nicht auf einem anderen Stern. Auch wenn einige das behaupten. Wir leben hier und jetzt mit wachen Augen. So wie Paulus damals auch. Die Gesetze, nach denen gehandelt wird, heißen sie nun „Sachzwänge“ oder „persönliche Interessen“, „Individualität“ oder auch nur „Spaßhaben“ – das wissen wir.

Wir werden ja selbst davon beeinflusst, beziehen sie ein in unsere Entscheidungen. Und doch, eins unterscheidet uns – hoffentlich. Und davon sollen wir erzählen. Von der Hoffnung. Von der Hoffnung: es geht auch anders. Mal vertrauen wir stärker darauf, mal schwächer, mal schwindet sie ganz. Auch davon sollten wir erzählen.

Vielleicht gerade heute, am Tag der Wahlen: „Ich hoffe weiter: es geht auch anders. Weniger egoistisch, weniger hartherzig, geduldiger, ehrlicher, mit Liebe.“ Festhalten. An der manchmal starken, oft schwachen, manchmal sicheren, oft zweifelnden Haltung: es ist möglich, ja sogar sinnvoll: dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte. Auch Paulus weiß, dass das zwar möglich und sicher sogar nötig ist; aber er weiß auch, wie schwierig das ist. Und deshalb wird er nicht konkreter.

Prüft aber alles, und das Gute behaltet. Das Richtige ist nicht einfach. Wer das Gute sucht und zu tun versucht, bleibt nicht strahlend und unversehrt. Manches misslingt, wenn’s konkret werden muss.

Eine kleine Geschichte von Reinhard Mey zum Schluss, die vielleicht eine gelungene Situation schildert. Sie zeigt, dass auch ein  Regelverstoß, ja, sogar eine Lüge, das Richtige, das Gute sein kann. Das Richtige ist nicht einfach.

Reinhard Mey ZEUGNISTAG

Ich denke, ich muss so zwölf Jahre alt gewesen sein, und wieder einmal war es Zeugnistag.

So, jetzt ist es passiert, dacht‘ ich mir, jetzt ist alles aus, nicht einmal eine Vier in Religion. Oh Mann, mit diesem Zeugnis kommst du besser nicht nach Haus, sondern allenfalls zur Fremdenlegion. Ich zeigt‘ es meinen Eltern nicht und unterschrieb für sie, …

Der Zauber kam natürlich schon am nächsten Morgen raus, die Fälschung war wohl doch nicht so geschickt. Der Rektor kam, holte mich schnaubend aus der Klasse raus.

Dann ließ er meine Eltern kommen, lehnte sich zurück, voll Selbstgerechtigkeit genoss er schon die Maulschellen für den Betrüger, das missrat’ne Stück, diesen Urkundenfälscher, ihren Sohn.

Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich an und sagte ruhig: „Was mich anbetrifft, so gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifels daran, das ist tatsächlich meine Unterschrift.“

Auch meine Mutter sagte, ja, das sei ihr Namenszug. Gekritzelt zwar, doch müsse man verstehn, dass sie vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen trug. Dann sagte sie: „Komm, Junge, lass uns gehn.“

… Ich weiß nicht, ob es rechtens war, dass meine Eltern mich da rausholten … Ich weiß nur eins, ich wünsche allen Kindern auf der Welt, … Eltern, die aus diesem Holz geschnitten sind.