„Ist nicht mein Wort wie ein Hammer?“
Liebe Gemeinde,
„Lieber Gott.“ Manchmal ertappe ich mich auch heute noch dabei, dass ich Gebete so anfange wie ein Kind. „Lieber Gott.“ Ist auch eigentlich nichts dabei, schließlich sage ich auch „Liebe Gemeinde“ oder „Liebe Frau Schmidt“. Das ist eben die Anrede in der deutschen Sprache.
Dann aber kommt es mir doch wieder kindlich vor. Denn dieses „lieber Gott“ transportiert ein Bild mit, das meine Generation geprägt hat: die Generation, die in den 70er Jahren zur Schule und in den Religionsunterricht ging. Eine Zeit, in der man sich bewusst verabschiedet hat vom Bild des strafenden, bösen, zornigen Gottes. Einem Gott, den man fürchten, vor dem man zittern muss. Und ehrlich gesagt: Das war zunächst sicher auch gut so. Ich werde nie vergessen, wie mir einmal eine alte, dem Tode schon sehr nahen Frau unter Tränen erzählt hat, dass sie eine solche Angst vor dem Sterben hatte, weil sie die alten Höllenbilder, mit denen sie aufgewachsen war, einfach nicht loswurde. Nein, ein Glaube, der Angst macht, statt zu befreien, das kann nicht der Weg sein.
„Lieber Gott.“ Für mich gab es damals nur diesen gütigen Vater und das liebe Jesulein. Das Gericht, die Hölle gehörten einer Theologie von gestern an.
Aber dann ist da dieser gewaltige Text des Propheten Jeremia, der Gottes Zorn beschwört.
Predigttext Jer 23, 16-29
So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN. Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen –, und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. Aber wer hat im Rat des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? Siehe, es wird ein Wetter des HERRN kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen. Und des HERRN Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen. Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie. Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren. Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe?, spricht der HERR. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der HERR. Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Wann wollen doch die Propheten aufhören, die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen, die einer dem andern erzählt, so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal? Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht. Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der HERR. Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?
Wovon spricht Jeremia hier? Damals, im 6. Vorchristlichen Jahrhundert, kontrolliert die Besatzungsmacht Babylon das kleine Judäa und seine Nachbarstaaten. Sie sind dabei, sich gegen die Besatzer zu verbünden. Doch das ist riskant. Was ist richtig? Das ist damals nicht nur eine politische, sondern auch eine religiöse Frage. Ist Gott an unserer Seite? Jeremia sieht das Unheil kommen, er warnt vor einer Katastrophe, doch erfolglos. Er will die falschen Propheten, die das Volk in einen Krieg hineinziehen, entlarven, doch es gelingt ihm nicht. Jeremia verzweifelt fast darüber. In dieser Haltung wird er oft auch in der Kunst dargestellt: der eines Mannes, der einsam und verzweifelt ist, der verlacht und bedroht wird.
„Der Sturm des Herrn (sein Grimm) bricht los. Ein Wirbelsturm braust hinweg über die Köpfe der Frevler. Der Zorn des Herrn hört nicht auf, bis er die Pläne seines Herzens ausgeführt und vollbracht hat. (…) Ist nicht mein Wort wie Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“
Diese Sätze des Propheten erinnern mich an ein musikalisches Werk von Giuseppe Verdi: seine Messa da Requiem. Es ist eine Totenmesse, die der katholischen Messordnung folgt und die Verdi so gewaltig wie eine Oper inszeniert. Besonders hervor sticht das Motiv des „Dies irae“ (der Tag des Zorns). Verdi bietet hier alles auf, um ein wahrhaftiges Zornesgewitter über die Zuhörenden hereinbrechen zu lassen. Man sitzt da wie vom Donner gerührt, wenn der riesige Chor, die sangesgewaltigen Solistinnen und Solisten und das Orchester mit Pauken und Trompeten – wie der Prophet Jeremia – Gottes Zorn über die unbelehrbare Menschheit hinausschreien.
Dies irae, dies illa
(…)
Tag des Zornes, jener Tag,
Wird das Weltall sich entzünden,
wie Sibyll und David künden.
Welch ein Graus wird sein und Zagen,
Wenn der Richter kommt, mit Fragen
Streng zu prüfen alle Klagen!
Wir hören hinein:
Ich habe das Verdi Requiem neulich im Konzertsaal miterlebt. Es hat mich aufgewühlt. Dieser grimmige Zorn, den Gott da über den Menschen entlädt, der hat mich nicht kalt gelassen. Aber erstaunlicherweise: Die Musik hat mir auch gutgetan. Sie hat mir geholfen, mich innerlich abzureagieren. Es war so, als hätte ich in diesem Moment meine Sorgen und Ängste über unsere krisenhafte Zeit Gott an den Kopf werfen können. Dieser Gott, dessen „Wort wie Feuer und ein Hammer ist, der Felsen zerschmettert“, der war nicht nur zornig über die Menschheit, der hat umgekehrt auch meinen Zorn ausgehalten und mich entlastet.
Dieser Spur möchte ich gedanklich weiter folgen. Es gehört zum Glauben dazu, dass wir uns Bilder von Gott machen. Manchmal stellen wir uns Gott eher wie den Urgrund allen Seins, das Allumfassende vor, das uns umfängt. Dann wiederum brauchen wir einen Gott als Gegenüber: Man nennt das den personalen Gott. Beides ist wichtig, beides gehört dazu. Gott als Gegenüber: Das ist der Gott, den ich als Du ansprechen kann. Zu dem ich beten kann, dem ich alles anvertrauen kann.
Dieser personale Gott ist auch der Gott, von dem die Bibel sagt: Er hat uns Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Wir stehen ihm gegenüber, als ganze Menschen, von Kopf bis Fuß. Wir können uns als ganze Menschen, mit allem, was wir sind, und mit allem, was wir fühlen, in ihm spiegeln.
Zu den Grundgefühlen des Menschen gehört aber nicht nur Freude. Dazu gehören auch Angst, Trauer und Wut. Das sind starke Gefühle. Wohin mit ihnen, wenn sie kein Gegenüber finden? Einfach ignorieren und wegschieben? Verdrängte Gefühle kommen bekanntlich irgendwann wieder hoch, und zwar meist an den falschen Stellen. Sie müssen irgendwohin. Sie dürfen zu Gott.
Ich erinnere mich daran, was mir ein jüdischer Theologe – durchaus augenzwinkernd – erzählt hat: „Im Judentum haben wir kein Problem damit, Gott alle Schande zu sagen, mit ihm zu hadern, zu zürnen, zu klagen und ihm die schlimmsten Dinge an den Kopf zu werfen, wenn es uns schlecht geht und wir die Welt nicht mehr verstehen. Das ist für uns ganz normal. Wir denken, Gott hält das aus, die ganze Bandbreite unserer Gefühle. Er kennt die schließlich auch.“
Ich glaube, das ist eine gute und gesunde Haltung. Mir scheint, mit unserer starken Fokussierung auf den „lieben“ Gott berauben wir uns einer wichtigen Möglichkeit, mit den schweren Erfahrungen in unserem Leben angemessen umzugehen. So wenig wie Menschen immer lieb sind, ist Gott immer „lieb“. Und hat er nicht allen Grund, der Menschheit zu grollen? Der Prophet Jeremia hat Gottes Zorn über Fehlentwicklungen seiner Zeit in drastischen Bildern ausgemalt. Diese Bilder sind heute nicht weniger aktuell. Auch wir können den heutigen Herausforderungen nicht alleine mit der Idee eines lieben Gottes beikommen. Es ist doch allemal besser, die Angst vor der Zukunft bei einem zürnenden Gott abzuladen – anstatt sie in Hass umzumünzen und anderen Menschen vor die Füße zu kippen.
Gottes Zorn, den Jeremia beschwört, hat, so finde ich, nichts zu tun mit den unguten Höllenbildern, mit denen Generationen von Kindern gequält wurden. Diese Bilder wurden in toxischer Art und Weise genutzt, um Macht über Menschen auszuüben. Für mich ist dieser zürnende Gott kein Gott in Menschengestalt, der wie ein Berserker wütet. Nein, er ist ein Gott, der es uns erlaubt, einen angemessenen Umfang mit unseren Gefühlen zu finden. Ein Gott, mit dem ich mich oft freuen und den ich loben kann, mit dem ich aber auch ringen kann und mit dem ich traurig und wütend sein kann darüber, dass die Menschheit es mal wieder nicht hinbekommt. Denn zornig dürfen wir sein über die falschen Propheten, die uns belügen, die Fakten verdrehen, den Klimawandel leugnen, Kriege vom Zaun brechen; die sagen, sie hätten große Träume für ihr Volk, und in Wirklichkeit geht es nur um sie selbst und ihre Allmachtsphantasien. Und wütend sind wir ja manchmal zurecht auch über uns selbst, wenn wir unsere Ansprüche an uns selbst mal wieder nicht einlösen.
„Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“, lässt Jeremia Gott fragen. Auch hier: Es ist ein frommer Wunsch zu glauben, dass ich mir Gott jederzeit verfügbar machen kann. Dass ich sonntags in die Kirche gehe oder durch den Wald spaziere und denke, jetzt müsse sich Gott mir zeigen. Ich will ihn spüren können, ich habe ein Anrecht darauf, als gläubiger Mensch, dass Gott mir nahe ist. Nein, so funktioniert das nicht. Gott ist mindestens genauso oft fern, und mit dieser Gottesferne geht Angst einher: Die Angst, von Gott und der Welt verlassen zu sein. Jeremia erinnert daran, dass Gott jederzeit aus dem Gesichtsfeld des Menschen verschwinden kann, dass er eine dunkle Seite hat, die wir nicht ergründen können, und dass wir nicht nur Gottes Nähe genießen dürfen, sondern auch seine Ferne und die damit verbundenen dunklen, bedrohlichen Gefühle aushalten müssen.
Jeremia geht es darum, die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes „das Fürchten zu lehren“. Dieses (deutsche) Wort „Fürchten“ ist vielschichtig: Da steckt Angst drin und Erschrecken, aber auch so etwas wie Respekt, Hochachtung. Und dann gibt es noch eine besondere Furcht: die Ehrfurcht. Das ist eine mit Verehrung einhergehende Furcht. Eine Hochachtung vor etwas Höherstehendem. Man denke an Moses: Er näherte sich in Ehrfurcht dem brennenden Dornbusch, als die Stimme Gottes ihn dazu aufforderte. Die Ehrfurcht vor Gott: Man nennt sie auch Gottesfurcht. Diese Spur führt uns wieder zurück zu Gottes „grimmigem Zorn“. Ja, wir sollen Gott fürchten, vielleicht weil wir es heute mehr denn je nötig haben, überhaupt noch irgendetwas zu fürchten, anstatt uns angesichts aller Errungenschaften – bis hin zur Künstlichen Intelligenz – für allmächtig zu halten. Einen nur „lieben“ Gott kann man aber nicht fürchten – wie soll das gehen? Das ist ein wenig so wie zwischen Eltern und Kindern: Es tut Kindern nicht gut, wenn sich Eltern gar keinen Respekt mehr verschaffen, wenn sie ihren Kindern keine Grenzen setzen und sie nicht auch mal zur Raison bringen.
Aber – und das ist doch eine gute Nachricht – das Angebot, das die Bibel gleichzeitig an vielen Stellen macht, lautet: „Fürchtet euch nicht!“ Das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Es bedeutet: Habt Ehrfurcht vor Gott, nehmt ihn nicht auf die leichte Schulter, verharmlost ihn nicht und lauft keinen falschen Propheten hinterher – aber in der Welt müsst ihr keine Angst haben. Denn ich bin für euch da.
Jeremia war ein radikaler Prophet. Ein Mann der drastischen Worte. Sicher auch einer, von dem man heute sagen würde: ein Spinner und ein Aufwiegler. Aber ich habe beim Nachdenken über seine Worte von Tag zu Tag deutlicher gespürt, wie sehr sie mich berühren und wie sehr ich sie brauche. Die Zeit der klaren Worte ist gekommen. Worte wie Feuer und wie Hammerschläge. Natürlich wird man „da draußen“, in Politik und Medien oder bei all den selbstgefälligen Leuten, die im wahrsten Sinne des Wortes „weder Tod noch Teufel“ fürchten, nichts erreichen, wenn man ihnen von Gottes Zorn erzählt. Aber diesen Zorn wahrzunehmen und zuzulassen und ihn dann als Antrieb zu nutzen, um selbst etwas zu tun oder sich den falschen Propheten in den Weg zu stellen, das können wir. Gott ist die Liebe und die Freude, ja. Aber Gott ist auch Trauer, Angst und Wut. In all dem ist er uns ganz nah, wie in einem Spiegel.
Dieses Bild vom Spiegel kommt Ihnen bekannt vor? Mir auch. Wir finden sie in den Zeilen des Apostels Paulus im ersten Korintherbrief (1 Korinther 13):
Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich stückweise;
dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Wir können nicht anders, als Gott mit menschlichen Eigenschaften und Gefühlen wie Liebe oder Zorn auszustatten, weil unsere Erkenntnis einfach nicht weiter reicht. Aber irgendwann, wenn wir über die Schwelle zum Jenseits treten, werden wir diesen Gott erkennen. Einen Gott, den wir fürchten sollen und lieben dürfen.
Amen. Und der Frieden Gottes, der höher ist als alles, was wir heute verstehen können, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.